Auf dem Gang vor den Patientenzimmern hörte man, dass die Verteilung des Abendessens begonnen hatte.
Brigitte machte sich wieder unsichtbar für Fremde und wir setzten unsere Unterhaltung telepathisch fort:
Linda, Chris liebt dich über alles, er wird es verstehen und dir helfen, dein Mädchen zu finden. Ich kenne niemanden, der einfühlsamer und verstandnisvoller ist als Chris.
Ich blickte in Brigittes gutmütige Augen und fühlte so etwas wie Hoffnung in mir aufkeimen. Und gleich darauf kamen schon wieder die ersten Zweifel.
Aber wie soll ich sie jemals finden? Ich weiß doch gar nicht, wo ich anfangen soll zu suchen. Und wie erkenne ich sie? Ich weiß noch nicht einmal wie sie aussieht.
Neue Tränen schossen mir in die Augen.

Brigitte ging wieder zum Fenster und schloss die Augen. Ich hielt die Luft an und wartete. Kurz darauf drehte sie sich zu mir um und lächelte.
Da kann ich helfen. Bei der Familie hängt ein Foto von Momo an der Wand, es wurde erst vor kurzem aufgenommen.
Sie ist bildhübsch, sehr schlank, hat sehr helle Haut mit lustigen Sommersprossen, meergrüne Augen und dickes, goldblondes Haar, dass ihr in großen Locken bis zur Taille reicht und in der Sonne wie Kupfer glänzt. Du wirst sie gleich erkennen, wenn sie dir begegnet ...

Ich schreckte hoch, noch ganz benommen von meinem emotionalen Traum.

"Gute Nachrichten Linda, morgen früh darfst du nach Hause." verkündete Elisabeth fröhlich und ihre Augen lächelten mit ihren Lippen um die Wette.

Ich schlief in dieser Nacht sehr unruhig und konnte es kaum erwarten, dass Chris mich am morgen abholte.
Er bestand darauf, dass ich mich zuhause erstmal eine Stunde hinlegte.
Als ich danach ins Wohnzimmer kam, saß Chris in einem Buch vertieft auf der Couch, Caesi hatte sich auf seinem Schoß zusammen gerollt.
Die Zwillinge saßen, wie so oft, beide auf dem großen weinroten Ledersessel mit dem kuscheligen Schaffell.
Darling saß mitten im Zimmer und guckte beleidigt zur Seite. Dann fiel mir das trotzige Gesicht von Bonnie auf und der ratlose Gesichtsausdruck von Charly. Und dann merkte ich es ... auch wenn sie ihre Gedanken sorgfältig abgeschirmt hatten. Sie stritten sich. Das erste Mal in all den Jahren.
Du lügst! Bonnie schaute Darling wütend an.
Ich bin ein Engel, schon vergessen? Ich KANN nicht lügen! erwiderde Darling ungerührt.
"Charly, was ist hier loss?" wollte ich wissen.
Charly druckste etwas herum, dann kam er doch mit der Sprache heraus.
"Mama, Darling hat gesagt, wir hätten eine große Schwester und wir müssen sie suchen, weil sie unsere Hilfe braucht. Aber das kann doch gar nicht sein, oder?"
Mir wurde heiß und kalt und der Klos in meinem Hals wurde immer größer.
"Mama? Warum sagt Darling so etwas?"
Ich beschloss die Flucht nach vorn anzutreten. " Charly, Darling lügt nicht. Momo ist eure große Schwester und ja, wir müssen sie finden."

Chris hatte sein Buch zugeklappt und starrte mich an. "Kann mir vielleicht mal jemand sagen, von was ihr da redet?" ....

Ich hatte mir vorher zurecht gelegt, was ich sagen wollte, aber nun waren die Sätze nicht mehr in meinem Gedächtnis. Langsam und stockend begann ich zu erzählen was damals geschah. Die ganze Geschichte. Ich ließ nichts weg und versuchte erst gar nicht, etwas schön zu reden.
Chris hörte aufmerksam zu und ich konnte in seinen Augen Trauer, Verständnis und Mitgefühl sehen.
Als ich mit meiner Erzählung zum Ende kam, zog er mich wortlos in seine Arme und drückte mich an seine Brust. Er strich mir liebevoll über das Haar und flüsterte in mein Ohr: " Es muss sehr schlimm für dich gewesen sein, mein Schatz. Du hast genau das getan, was in deiner Situation für dich das Beste schien. Und ich verstehe auch, dass du nicht darüber reden wolltest. Aber warum gerade jetzt? Warum belastet es dich gerade jetzt so sehr?"
Wieder schossen mir die Tränen in die Augen. Mit erstickter Stimme berichtete ich, dass Brigitte im Krankenhaus mit mir darüber geredet hatte.
"Brigitte sagte mir, dass mein Mädchen auch als Engel zur Welt kam und dass sie meine Hilfe braucht, weil ihre Adoptivfamilie damit überfordert ist. Sie heißt Monika, aber alle nennen sie Momo. Chris, ich muss sie finden ... hilfst du mir dabei? Bitte!!!"
"Natürlich helfe ich dir, Schatz. Aber wo sollen wir anfangen?"
"Die Engel werden uns leiten, Chris. Wir müssen mit offenen Augen auf die Zeichen achten und auf unser Gefühl vertrauen. Brigitte, Darling und unsere Zwillinge werden uns dabei helfen...."

"Nein, Darling, du warst nicht böse. Aber wir brauchen deine Hilfe, um Momo zu finden."
Ich riss mich zusammen und erklärte Darling, was Heriel uns gerade gesagt hatte.
Heriel hatte sich nach draußen zurückgezogen, aber ich konnte seine Anwesenheit noch spüren, das gab mir Kraft.
Darling hörte aufmerksam zu, dann hörte ich seine Stimme in meinem Kopf:
Wenn das die einzige Möglichkeit ist, dann mache ich es. Wohin bringt ihr mich denn?
Ich sah fragend zu Chris, aber er zuckte nur mit den Schultern. "Das hat Heriel nicht gesagt."

Ich öffnete geistesabwesend den Browser meines Smartphones, eine ganze Reihe Neuigkeiten aus aller Welt waren untereinander aufgelistet.
Direkt als Erstes prangte eine Schlagzeile: Mädchen rettet unter Lebensgefahr fremden Hund
Darunter sah ich das Foto eines Teenagers mit langen roten Locken, moosgrünen Augen und heller, porzellanfarbiger Haut, auf den Wangen waren schwarze Rußspuren.
Ich klickte den Artikel an und las, dass in einer Mülltonne für Altpapier ein kleiner Hund war. Jemand hatte ihn dort zum Sterben entsorgt und dann die Mülltonnen angezündet. Das Mädchen, Monika Moreno, hörte das laute Jaulen des Hundes, der in Todesangst war, und rettete ihn in letzter Sekunde aus den Flammen. Wie durch ein Wunder war ihr nichts geschehen, aber der Hund trug schwere Verbrennungen davon und er war offensichtlich krank und klapperdürr.
Die Eltern des Mädchens schäumten vor Wut darüber, dass ihre Tochter sich für "diese Thöle" in Gefahr gebracht hatte und sie nun die hohen Tierarztkosten bezahlen mussten. Es folgte ein Spendenaufruf des Reporters...

Monika Moreno .... das musste Momo sein!
Fieberhaft suchte ich in dem Artikel nach einem Hinweis, wo sich dieser Vorfall ereignet hatte - vergeblich!
Die Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf. Einerseits konnte ich die Eltern verstehen, sie machten sich Sorgen um ihre Tochter, die sich in große Gefahr gebracht hatte. Dann musste ich an meine eigenen Kinder denken und wusste: sie hätten ohne zu zögern genau das gleiche getan. Und ich wäre mächtig stolz auf sie gewesen. Das Mädchen tat mir plötzlich leid. Wortlos reichte ich mein Handy zu Chris rüber ....

Unterdessen hatte Momo einen heftigen Streit mit ihren Zieheltern. Wie immer in der letzten Zeit ging es um den kleinen Hund den sie gerettet hatte und den sie Phoenix getauft hatte.
"Sieh zu, dass dieses Viech hier verschwindet, ich gebe keinen Cent dafür aus!" schimpfte ihr Vater, der immer schon klar gemacht hatte, dass er keine Tiere im Haus duldete.
"Das brauchst du auch nicht, er wird auch ohne dein Geld wieder gesund werden. Ich kümmere mich darum, aber dafür muss er hier bleiben. Was seid ihr nur für herzlose Ungeheuer?!" Momo war entsetzt und traurig, aber sehr entschlossen. Diesmal wollte sie nicht klein beigeben. Und wenn sie mit Phoenix weggehen müsste....
Ihre Mutter saß wortlos daneben, sie traute sich nicht, ihrem Mann zu widersprechen. Aber insgeheim bewunderte sie ihre Monika dafür, dass sie zu ihren Taten stand.
Ein Wort gab das andere, und am Ende lief Momo wutschnaubend aus dem Haus und rannte direkt in den Schuppen im Garten, in dem sie ein Lager für Phoenix eingerichtet hatte. In der Tür blieb sie wie angewurzelt stehen. Neben dem völlig entkräfteten Phoenix saß ein kleiner, weißer Havaneser und bewegte seinen Kopf langsam hoch und runter ... hin und her ...
Und sie spürte deutlich die starke Energie, die von ihm ausging und den ganzen Raum füllte....

Leise flüsterte sie, mehr zu sich selbst als zu Darling: "Wer bist du?"
Ich heiße Darling
"Darling ... was für ein schöner Name. Er klingt, als hätte dich mal jemand sehr, sehr lieb gehabt. Aber wie kommst du hierher? Hat man dich ausgesetzt?"
Was? ... Nein! Ich habe eine sehr, sehr nette Familie und ich werde von allen sehr geliebt. Ich wurde geschickt um dir zu helfen. Du gehörst nicht hierher.
"Ich will schon lange nicht mehr hier sein, aber wo soll ich denn hin? Niemand mag mich!" Momos schöne meergrüne Augen füllten sich mit Tränen.
Du bist anders als die Menschen um dich herum, das macht ihnen Angst. Bitte, komm mit mir zu meiner Familie. Du wirst Linda, Chris, Bonnie und Charly mögen. Und sie erwarten dich schon ... und Phoenix nehmen wir natürlich auch mit fügte er schnell hinzu, denn er wusste, dass sie Phoenix niemals hier zurück lassen würde.
"Wie - sie erwarten mich schon? Woher wissen sie denn ...?"
Erschrocken hielt sie inne, als sie die laute, ungeduldige Stimme ihres Ziehvaters hörte: "Momo!!! Mit wem redest du da? Wer ist da bei dir? Du weißt genau, dass ich niemanden hier haben will!!!"
Dann flog die Tür des Schuppens auf und ihr Vater stand wutschnaubend in der Tür ...

Darling ging voran und Momo folgte ihm mit Phönix auf dem Arm. Sie würdigte ihren Ziehvater keines Blickes und ging mit hoch erhobenem Kopf direkt auf das Wohnhaus zu. Obwohl es ihr eigener Wunsch war zu gehen, fühlte es sich wie ein Rausschmiss an. Ihre Ziehmutter stand mit Tränen in den Augen in der Tür, sie ahnte, dass es ein Abschied für immer sein würde.
"Ich muss gehen." Momos Stimme war heiser.
Ihre Mutter nickte traurig. "Ja, ich weiß. Es tut mir leid, dass ich dich nicht besser beschützen konnte. Bitte verzeih mir und vergiss mich nicht."
Momo sah ihr direkt in die Augen. "Ich gehöre nicht hierher Mutter, du kannst nichts dafür."
Es folgte betretenes Schweigen.
Darling stupste ganz sachte Momos Bein mit seiner Nase an. Wir müssen los Momo...
Wortlos drehte sie sich um und das Trio verließ den Hof ohne sich noch einmal umzublicken.

Sie gingen schweigend die Straße entlang Richtung Ortsausgang. Momo hing ihren Gedanken nach.
'Es war ganz einfach. Aber war es auch richtig? Was soll jetzt aus mir werden? Phönix ist noch viel zu schwach zum Laufen und er wird langsam ziemlich schwer....'
Sie blieb stehen, ihr Blick suchte Darling. "Und jetzt? Was machen wir jetzt?"
Jetzt gehen wir in den Wald. Nicht weit von hier ist eine kleine Schutzhütte, dort bekommen wir Hilfe. Hab keine Angst Momo, alles wird gut.
Momo spürte plötzlich wieder diese seltsame Energie, die sie durchströmte und ihr Wärme und Kraft verlieh. Phönix zu tragen erschien ihr plötzlich ganz leicht.
Voller Zuversicht stiefelte sie hinter Darling her in den nahegelegenen Wald, bis sie nach einer Weile eine kleine Holzhütte sahen. Durch das kleine Fenster konnte sie ein seltsames Leuchten im Inneren der Hütte sehen und als sie die Hütte erreicht hatten öffnete sich die Tür und eine junge Frau mit gutmütigen Augen und einer samtweichen Stimme begrüßte sie freundlich.
"Hallo Momo, da seid ihr ja endlich. Kommt schnell herein, hier ist es schön warm. Ein Sturm zieht auf, es wird bald ziemlich ungemütlich draußen ... "

".... aber ich bin kein Weihnachtsengel. Ich habe schon einmal gelebt und bin als Schutzengel für deine Familie wieder auf die Erde gekommen. Darling hingegen ist als Engel zur Welt gekommen, genau wie Du Momo."
Brigitte machte eine Pause, aber Momo sagte gar nichts, sah Brigitte nur fragend an.
"Nur deshalb kann Darling mit dir reden, so dass du ihn hören kannst. Weil auch du ein Engel bist ..."
Sie redeten noch lange, Brigitte beantwortete geduldig jede von Momos Fragen.
Als Stunden später der Schneesturm vorbei war, machten sie sich am nächsten Morgen auf den Weg ....

Am Nachmittag klingelte es an der Haustür.
"Ich gehe schon!"
Als ich die Tür öffnete, blickte ich direkt in ein wunderschönes Gesicht mit 2 meergrünen Augen, umrahmt von dicken goldblonden Locken.
'Momo!!!' schoss es mir in den Kopf.
Ich breitete meine Arme aus und schlang sie um ihre schmalen Schultern, wortlos zog ich sie an mich.
"Willkommen Zuhause mein Engel" flüsterte ich in ihr Ohr.

Momo traten Tränen in die Augen.
Nähe, Wärme, das Gefühl wirklich geliebt zu werden - wie sehr hatte sie sich danach gesehnt. Sie ließ sich einen Moment in die Arme der für sie völlig fremden und doch seltsam vertrauten Frau sinken, dann folgte sie ihr in den Wohnraum.
Brigitte hatte Phönix auf dem Arm und schlich zusammen mit Darling hinterher.

Im Wohnzimmer angekommen blieb Momo überwältigt stehen.
Im Kamin prasselte ein warmes Feuer, in der Ecke am Fenster stand ein prächtig geschmückter Weihnachtsbaum und überall waren wunderschöne Dekorationen und kleine Lichter verteilt. Unter dem Weihnachtsbaum lagen wunderschön verpackte Geschenke. Alles war so liebevoll gemacht und sah so gemütlich aus.

Ihr Blick fiel auf Chris, der mit Caesi auf der Couch saß und sie aus sanften Augen liebevoll ansah. Er stand sofort auf, ging auf sie zu und lächelte freundlich.
"Willkommen Momo, ich bin Chris, schön dass du endlich hier bist ...."

Brigitte setzte Phönix auf den Boden und ich konnte die arme, geschundene Kreatur zum ersten Mal richtig sehen. Ein Großteil seiner Haut war verbrannt, auch wenn die Blasen seit Darlings Notfallbehandlung gut abgeheilt waren. Das wenige Fell war von den Flammen versengt, er war viel zu dünn und kraftlos. Da stand er nun, zitternd, aber seine schönen dunklen Augen sahen aufmerksam und voller Vertrauen zu Momo.
Brigitte ging zum Weihnachtsbaum und zog ein großes Päckchen darunter hervor. Sie reichte es Momo.
" Es ist zwar nicht direkt für dich, aber ..."
Momo unterbrach sie: "Ich will niemandem das Geschenk wegnehmen. Dass ich hier sein darf, bei meiner richtigen, eigenen Familie, das ist das größte Geschenk für mich."
"Nun pack schon aus, du nimmst niemandem etwas weg" ermunterte Chris sie.
Vorsichtig öffnete Momo das schöne Geschenkpapier und hervor quoll ein kuschelig weiches Hundebett und ein warmer Hundemantel. Momo strahlte über das ganze Gesicht. Der Mantel passte Phönix wie maßgeschneidert und er ließ sich zufrieden seufzend auf das Bettchen sinken.
"Jetzt muss er wenigstens nicht mehr frieren. Danke ... Vielen, vielen Dank!"

Brigitte zog ein weiteres, viel kleineres Päckchen hervor und reichte es Momo.
"Und das ist für dich. Gib gut darauf acht."
Momo öffnete auch dieses Päckchen ganz vorsichtig und zog eine goldene Kette mit einem wunderschön verzierten Schlüssel daraus hervor. Sie drehte den Schlüssel und betrachtete ihn von allen Seiten, dann entdeckte sie seine Inschrift:

Wo Magie mit Wirklichkeit sich bindet,
der Engel Zauberkraft nie mehr verschwindet

Fragend sah sie mich an.

Ich erklärte ihr mit leiser Stimme: "Dies ist der Schlüssel zu einer geheimen Wohnung, Momo. Natürlich darfst du bei uns wohnen solange du willst, aber in dieser Wohnung findest du immer Schutz und Zuflucht, egal was passiert. Sie ist magisch. Und - dieser Schlüssel wird dir alle Herzen öffnen, egal wo du auch hingehst. Trage ihn immer bei dir."
Momo sah verlegen zu Boden, unfähig etwas zu sagen. Ich nahm sie wortlos in meine Arme, wir verstanden uns auch so.
Aus den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung am Fenster und schaute genauer hin. Draußen stand Heriel, zwinkerte mir vergnügt zu und reckte beide Daumen in die Luft.
Wir hatten alles richtig gemacht.

Brigitte nahm Phönix wieder auf den Arm und machte sich mit Darling zusammen auf den Weg ins Zimmer der Zwillinge, die schon sehnsüchtig auf ihre große Schwester warteten.
"Und nun komm mit Momo, schau zu und lerne...."

Nachdem wir uns noch eine Zeitlang glücklich in den Armen lagen, begannen wir mit unserer Bescherung und freuten uns über die liebevoll ausgesuchten Geschenke.

Plötzlich ging die Tür auf und Phönix kam hereingerannt, gefolgt von Darling und unseren Kindern.
Phönix war wunderschön, sein langes, seidiges Fell war schwarz und weiß meliert, sah also von weitem grau aus. Das, zusammen mit seiner Geschichte, gab dem Namen Phönix eine ganz neue Bedeutung. Sein Aussehen ließ keinen Zweifel daran, dass seine Eltern Jagdhunde waren.
Da ihm das wärmende Unterfell fehlte, würde er seinen schönen Mantel auf jeden Fall noch oft tragen.

Die Zwillinge hatten Momo in ihre Mitte genommen, sie himmelten ihre große Schwester förmlich an und es schien, als würden sie sich schon ewig kennen.
"Mama, stell dir vor - Momo hat Phönix ganz alleine geheilt!" Bonnie war ganz aufgeregt. "Wir brauchten gar nichts machen. Sie ist soooo gut..."
Ich musste lächeln, als Brigitte Bonnie über den Kopf strich, so dass sie überrascht nach oben sah.
" Das stimmt. Momo ist jetzt schon eine mächtige Heilerin. Sie hat es nur nicht gewusst, weil sie ihre Fähigkeiten nie ausleben durfte" bestätigte Brigitte.
Momo nickte. "Alle haben immer nur gesagt ich spinne und ich soll aufhören so einen Unsinn zu erzählen."

Wir redeten noch lange, lernten uns gegenseitig besser kennen. Darling lag zusammen mit Phönix in dem neuen Hundebett, Bonnie und Charly saßen wie immer beide in dem großen Ledersessel mit dem Schaffell und Momo wollte unbedingt vor dem Kaminfeuer auf dem Boden sitzen, eingekuschelt in eine flauschige Decke. Chris hatte seinen Arm um meine Schulter gelegt und zog mich an seine Seite, während Caesi sich auf seinem Schoß zusammen gerollt hatte. Brigitte hatte sich verabschiedet. "Ich werde hier wohl erstmal nicht gebraucht." Und weg war sie.
Die Zwillinge hätten darüber beinahe ihre Bescherung vergessen, es war ein unvergesslicher Weihnachtsabend.
Momo war so bescheiden und zurückhaltend, dankbar für alles, ganz besonders für die Aufmerksamkeit, die wir ihr schenkten.
"Das ist das schönste Weihnachten, das ich je erlebt habe. Vielen vielen Dank, dass ich bei euch sein darf...."

Ihr Blick fiel auf Chris, dessen Gesichtsausdruck im Sekundentakt von ungläubig über entsetzt zu wütend wechselte.
" Ich werde gleich morgen früh mit Franz telefonieren" zischte er zornig.
"Dafür wird er büßen!"
Momo wurde blass. "Nein! Bitte nicht! Ich will ihn nie wieder sehen und ihm nie wieder begegnen müssen!"
Phönix, der wie ein Schatten immer an ihrer Seite war, stellte sich schützend vor sie. Sie hatte sein Leben gerettet, und er würde es ohne zu zögern für sie riskieren.
"Das musst du auch nicht mein Schatz!" Ich nahm sie tröstend in den Arm. " Es gibt Möglichkeiten, dass du vor Gericht aussagen kannst, ohne dass er dabei ist."
"Wieso wisst ihr überhaupt Bescheid? Seid ... seid ihr etwa auch ... Engel?" stammelte Momo verwirrt.
Ich musste lächeln. "Nein, wir nicht. Aber wir haben das große Glück, von vielen wunderbaren Engeln umgeben zu sein. So haben wir gelernt, mit ihnen zu kommunizieren, ohne dass Fremde es mitbekommen."

Am nächsten Morgen, Momo saß am Fenster und schaute gedankenverloren hinaus, sah sie ein Auto heranfahren. Es hielt nicht weit vom Haus an und zwei Männer stiegen aus. Sie konnte ihre Gesichter nicht sehen, aber sie schienen sehr vertraut miteinander. Sie lachten und umarmten sich, dann kamen sie Hand in Hand zum Haus. Momo erkannte den einen. Es war Chris. Sie runzelte die Stirn. 'Er wird doch Linda nicht mit einem Mann betrügen?!' dachte sie kurz. Dann klingelte es an der Haustür.
Sie rannte los, um zu öffnen, Phönix vorneweg.
Der fremde Mann lächelte freundlich und hielt ihr die Hand entgegen.
"Du musst Momo sein. Hallo! Ich bin Stefan" stellte er sich vor.
Der Mann, den sie für Chris hielt, stand breit grinsend im Hintergrund.
"Momo! Machst du bitte mal auf?"
Momo wirbelte herum. Die Stimme kam aus dem Wohnzimmer, und sie gehörte eindeutig zu Chris....

Momo senkte den Kopf und sah lange schweigend auf den Boden. Dann blickte sie Sonja in die Augen und sagte mit fester Stimme:
"Was er getan hat ist schrecklich. Aber seinen anderen Töchtern war er immer ein guter Vater. Erst als er dem Alkohol verfallen war, wurde er so brutal und ich war sein auserwähltes Opfer. Eigentlich ist er krank. Und ich glaube er hat Angst vor mir, weil ich anders bin. Er wollte mir zeigen, dass er der Stärkere ist..."
"Du willst ihm verzeihen?" Sonja traute ihren Ohren nicht...
"Ja. Nein. Ach ich weiß nicht....!" Momo sah hilfesuchend zu Franz. Der sah sofort seine Chance.
"Momo, was er getan hat geht gar nicht! Alkoholkrank hin oder her ... er muss bestraft werden! Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, Minderjährigen, da kennt das Gesetz keine Gnade und das ist auch gut so!"
"Ja, ihr habt ja Recht. Aber ich bin so froh dass ich endlich da raus bin. Ich will das alles einfach nur vergessen und ihn nie wieder sehen. Bitte!!! Hier kann ich ganz neu anfangen, mit meiner richtigen, eigenen Familie. Ich fühle genau, dass ich hierher gehöre und dass ich hier eine Aufgabe habe."
Sonja nahm Momos Hände in ihre und versuchte es noch einmal. "Du bist ein starkes, junges Mädchen Momo. Du kannst beides. Die Vergangenheit hinter dir lassen UND dein neues Leben hier beginnen. Du bekommst hier jede Unterstützung die du brauchst, wirst geliebt. Und ich denke, ein Teil deiner neuen Aufgabe ist es, für Gerechtigkeit zu sorgen und die Schwächeren zu schützen. Denk mal drüber nach."

Momo vergrub ihr Gesicht in dem weichen Fell von Phönix, drückte ihn an ihre Brust, ihre Gedanken rasten nur so in ihrem Kopf. Schließlich hob sie erneut den Kopf, ihre meergrünen Augen blickten entschlossen in die Runde. "Okay, ihr habt Recht. Ich kann dafür sorgen, dass meine Ziehmutter und meine Stiefschwestern nicht mehr unter ihm leiden müssen. Ich darf jetzt nicht schweigen...."